Der bekehrte Trunkenbold
– L’ivrogne corrigé

Komische Weinoper von Christoph Willibald Gluck nach einem Text von Louis Anseaume für die Opéra Comique in Paris 1759, ursprünglich von Jean-Louis Laruette unter dem Titel L’ivrogne corrigé ou Le mariage du diable nach einer Bearbeitung von Charles Simon Favart komponiert.

Die singenden und spielenden Personen in der Originalfassung sind: Mathurin, ein Trunkenbold (Tenor), Methurine, seine Frau (Mezzosopran), Colette, seine Nichte (Sopran), Lucas, sein Zechkumpan, Winzer (Bariton), Cléon, Colettes Liebhaber, auch als Pluto verkleidet (Tenor).

Gesprochene Dialoge.

Im Orchester finden wir in der Originalpartitur 2 Oboen (auch Englischhorn), Fagott, 2 Hörner, Streicher und Basso continuo.

Der erfahrene Theaterpraktiker Anseaume hatte sich bereits als Autor zahlreicher, damals sehr beliebter komödiantischer Operntexte einen Namen gemacht. Sein Libretto geht auf eine kurze humoristische Fabel Jean de La Fontaines zurück: Eine geplagte Ehefrau versucht, ihren trunksüchtigen Gatten zu läutern, indem sie ihn mittels einer inszenierten Maskerade glauben macht, er sei bereits in die Hölle abberufen worden. Doch statt zu bereuen, bleibt der Gatte ein unbelehrbarer Trunkenbold und verlangt selbst dort noch nach Wein. Bei Anseaume allerdings gelingt die Bekehrung. Laruettes ursprüngliche Vertonung des derb-komischen und oft zweideutigen Librettos ist ein Kompilat aus elf Vaudevilles und dreizehn eigens komponierten Nummern und darin ein typisches Beispiel jener frühen Pariser opéra-comique, die Gassenhauermelodien (Vaudevilles) der Pariser Jahrmarktskomödien mit eigens komponierten „airs nouveaux“ im italienischen Stil verbanden und sich in Parodierung der italienischen Opera seria und der Tragödien der Pariser königlichen Hofbühne als eigenständige Musikgattung etablierten. Laruettes L’ivrogne gelangte jedoch so wenig wie seine anderen Opéra Comiques über einen Augenblickserfolg hinaus.

Der Direktor der kaiserlichen Theater in Wien, Giacomo Graf Durazzo, wandte sich Ende 1759 an Favart in der Absicht, in Wien eine gehobene Gattung der komischen Oper und damit ein Gegenstück zur Opera seria und zum Opernideal Pietro Metastasios zu schaffen. Favart bearbeitete das Libretto ohne nennenswerte Eingriffe, milderte jedoch die drastische Diktion. Gluck hat die Oper für diese Fassung neu komponiert, außerdem einige Vaudevilles durch Arien ersetzt. Die Tatsache, dass die Stimmfächer bei Laruette und Gluck identisch sind und Glucks Choeur final in F-Dur, Takt 3/8 Rhythmus, Instrumentation und Gliederung deutliche Entsprechungen zu Laruettes Chor No 12 zeigt, deutet darauf hin, dass Gluck dessen Vertonung kannte.

Glucks Komposition besteht aus Ouverture, 15 Airs nouveaux und einer nur in Stimmen überlieferten Sinfonia, die, ihrem Charakter nach, eine Ballettmusik ist und wahrscheinlich als handlungsverbindende Zwischenaktmusik erklang. Die dreiteilige Ouverture in G-Dur, der Mozart sich offenkundig bei der Komposition seiner Ouverture zu Bastien und Bastienne (1768) erinnerte, hat Gluck, leicht verkürzt und einen Ton höher transponiert, als das Bacchanale in III/4 von Armide (1777) wiederverwendet. Zwei Englischhörner begleiten die Klage Methurines (Arie No 11), die ihren Gatte von Pluto losbittet. Diese c-moll-Arie mit ihren Schluchzermotiven, die im Zusammenhang mit der Höllenmaskerade natürlich ebenso parodistisch wirkt wie der vorangehende Trauerchor der Höllengeister (No 7), ähnelt sehr dem ersten Klagechor aus Orphée et Eurydice (1774) und ist damit ein weiteres Indiz dafür, dass Gluck seine komischen Opern keineswegs als kompositorisch nebensächlich und unbedeutend gegenüber dem großen Reformwerk seiner tragischen Opern einstufte. In den vier Charakterstücken (die meist in Tanzform mit achttaktigen Ritornellen geschriebenen Trinklider Mathurins und Lucas und das Zankterzett No. 2) zeichnet Gluck seine Figuren musikalisch humorvoll und mit Parodie: Forte-piano-Akzente, abgerissene Wortphrasen, widersinnige Pausen, eigensinniges Zerdehnen einer Textsilbe, illustrieren die dröhnende Heiterkeit Mathurins (No 6). Der Ehestreit (Terzett No 2) erhält seine Pointe durch imitatorische Stimmeinsätze. Aber auch in den lyrisch gestimmten Arien, die schlicht gehalten und auf innigen Ausdruck berechnet sind, hatte Gluck dem deutschen Singspiel richtungsweisende Impulse gegeben.
Bezeichnenderweise ergeht sich Methurine am Schluss nicht in Spott über den gebeutelten Gatten, sondern wendet sich in ihrer G-Dur-Arie No 13 ins Lyrische und Versöhnliche, gewinnt also Distanz zur bloßen Posse und damit Innerlichkeit und menschliche Nähe.

Nach den Ergebnissen Ljudmila Holzers und den quellenkundlichen Untersuchungen Franz Rühlmanns kann als gesichert gelten, dass das Werk nicht nur mit Musik von Gluck, sondern zusätzlich mit elf Vaudevilles (darunter sechs Duette) zur Aufführung gelangte, die Gluck am Cembalo improvisierend begleitete. Den acht Vaudevilles im 1. Akt stehen nur drei im 2. gegenüber. Gluck legte den Schwerpunkt seiner Vertonung also offensichtlich auf die auch dramaturgisch effektvolle Höllenmaskerade des 2. Akts, wo ihm mit der Arie des Pluto (No 10) zugleich das formal kunstvollste und, aus der Situationskomik entwickelt, humorvollste Stück gelang. Zwei ganz heterogene Satztypen sind aneinandergeheftet und werden nach einem überleitenden Rezitativ wiederholt. Der Vordersatz ist ein feierlicher Choral im alla breve Takt (mit ernster Miene waltet Pluto der „Würde“ seines Amtes), der Nachsatz ein plapperndes und melodisches banales Allegro im 3/8-Takt (Pluto verordnet die Prügelstrafe und hält sich dabei den Bauch vor Lachen). So zeichnet sich in L’ivrogne corrigé der musikgeschichtlich bedeutsame Prozess der allmählichen Eliminierung der Vaudevilles zugunsten des durchgehend neukomponierten Singspiels ab. Dennoch stellen die Vaudevilles im Hinblick auf eine Wiederaufführung der Oper ein Problem dar: Sie blähen einerseits den dramaturgisch ohnehin etwas zähflüssigen 1. Akt zusätzlich auf, verbürgen anderseits jedoch eine Symmetrie und zeitliche Gleichgewichtung der beiden Akte und bieten, da Gluck sie bei seiner Vertonung berücksichtigte, eine gewisse Abwechslung zu den stilistisch sehr ähnlichen Airs nouveaux des 1. Aktes.

Von der Uraufführung sind weder das genaue Datum, noch die Namen der Sänger überliefert. Nachgewiesen ist aber eine Wiener Reprise am 30. Mai 1761, die vermutlich den Anstoß zur Aufnahme in den Spielplan deutscher Schauspieltruppen gab, denn die Oper wurde mit in derb-realistischem Umgangston abgefassten deutschen Texten 1780 in Mannheim als Der letzte Rausch und 1784 in Weimar als Die Trunkenbolde in der Hölle gegeben. Erst im Juli 1922 brachte die Petite Scène Glucks in Vergessenheit geratene Weinoper in einer französischen Bearbeitung von Vincent d’Indy am Pariser Théâtre Albert Ier zur Wiederaufführung. Am Schauspielhaus Kiel wurde sie 1936 in einer deutschsprachigen Bühnenbearbeitung (mit einigen Vaudevilles) von Bernhard Engelke gezeigt, und die Opernschule der Staatlichen Hochschule für Musik Berlin spielte sie ebenfalls in deutscher Sprache nach einer Bühnenfassung von Rühlmann und in einer Neuinstrumentierung von Sergiu Celibidache. Und dann, 1995, trumpfte die Bayerische Kammeroper Veitshöchheim mit ihrer neuen Bearbeitung des Werkes.

Die Fassung der Bayerischen Kammeroper Veitshöchheim

Uns allen war klar, dass ein Trunkenbold, der feierlich schwört, nie mehr zu trinken, eine langweilige Gestalt für ein Theaterstück wäre, besonders wenn die Produktion in Weinfranken zum Leben kam, in einem Land, wo sich der Wein wirklich trinken lässt. Ein erster Grund für eine Bearbeitung war also vorhanden: legitim und erfolgsnotwendig. Wir haben einen Mittelweg für die Titelfigur gewählt: zwischen dem Ur Trunkenbold, der sich nichts sagen lässt und auch „in der Hölle“ nach Wein verlangt, und dem Wiener Trunkenbold der leichtsinnig schwört, nie mehr zu trinken, gewählt. Bei uns erlebt Mathurin zwar alle „Qualen und Schrecken der Hölle“ muss jedoch versprechen, mäßig mit dem Elixier umzugehen.

Den Chor haben wir gestrichen, eine Kammeroper hat kompakt zu sein, um mit wenig Bühnenmitteln Wirkung zu erzielen. So wird die Partie des Chores, dort wo notwendig, von den Solisten übernommen.

In der ersten mainfränkischen Wiederaufnahme von 1995 haben wir uns für die bereits für Gluck bewährte Fassung des Zauberbaumes entschieden gehabt: 2 Oboen, 2 Hörner, Streicher und Cembalo. Für die neue Fassung 2010 und angesichts des sehr engen Raumes im Staatlichen Hofkeller der Würzburger Residenz werden die Instrumentalisten weiter reduziert und eine typisch wienerische Schrammelform einnehmen.

Alle Texte in der Originalsprache sowie in den zahlreichen Übersetzungen fanden wir langweilig und bedeutungslos, sie hätten keine Chance bei unserem heutigen Publikum, das von Verona bis Savonlinna pendelt, hunderte von CD- und DVD-Scheiben besitzt, dutzende Fernsehkanäle zur Verfügung hat und sich von Radio Opera verwöhnen lässt. So haben wir einen völlig neuen Text verfasst, der sich viel besser für das „neue“ Dasein des Trunkenboldes eignet. Verdammt wird keiner, es wird empfohlen, mit dem Gottestrunk maßvoll umzugehen, denn:

Ein Gläschen Wein ist goldeswert,
es lindert alle Schmerzen,
es macht die Dummen oft gelehrt
und bessert böse Herzen…

Und dann auch:

Die Weisheit trinket mit Vernunft,
sonst wird der Weiseste auf Erden,
wenn er in Wein sich übernimmt,
ein Narr aus einem Weisen werden…

Wir wissen nicht, was Ritter Gluck zu unserer Fassung
sagen würde, doch Eines wissen wir:

Das wichtigste im Opernhaus ist das Publikum,
und ihm zu gefallen ist unser erstes Gebot.